BAG: Arbeitsvertragliche Verweisung auf Branchentarifverträge erstreckt sich nicht auf Haustarifverträge
Wenn in einem Arbeitsvertrag auf die jeweils geltenden Tarifverträge der Branche Bezug genommen wird, sind die vom Arbeitgeber abgeschlossenen Haustarifverträge davon regelmäßig nicht erfasst.
Die Klägerin ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di und seit dem Jahr 1992 bei der Beklagten, die in Nordrhein-Westfalen ein Unternehmen des Einzelhandels betreibt, beschäftigt. Im Arbeitsvertrag wurde unter anderem folgendes vereinbart:
„2. Auf das Arbeitsverhältnis finden die jeweils geltenden Tarifverträge des Einzelhandels (…) in der jeweils gültigen Fassung Anwendung”.
Die Beklagte war früher Mitglied im Arbeitgeberverband und kündigte im Juli 2015 ihre Mitgliedschaft. Seither ist sie Mitglied ohne Tarifbindung.
Am 18.08.2015 und am 29.08.2017 wurden jeweils neue Gehaltstarifverträge für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen abgeschlossen.
Am 29.07.2016 schlossen die Beklagte und die Gewerkschaft ver.di einen Tarifvertrag, von dessen räumlichen Geltungsbereich auch der Betrieb, in dem die Klägerin tätig war, erfasst war.
In diesem Tarifvertrag wurde unter anderem vereinbart:
„§ 2 Anerkennung der Tarifverträge des Einzelhandels
(1) Alle gültigen (einschließlich nachwirkenden) regionalen Tarifverträge des Einzelhandels werden (…) anerkannt. (…)
§ 3 Ausnahmen von der Geltung der Flächentarifverträge
(1) Die Parteien vereinbaren folgende Abweichungen von den Regelungen in den Flächentarifverträgen:
1. Die Tarifentgelterhöhungen werden für die Jahre 2015, 2016, 2017 nicht gezahlt.
2. Für die Kalenderjahre 2017 bis einschließlich 2019 werden die aus den tariflichen Bestimmungen entstehenden Ansprüche auf Zahlung von Urlaubsgeld befristet reduziert auf 40 %. (…)
3. Für die Kalenderjahre 2016 bis einschließlich 2018 werden die aus den tariflichen Bestimmungen entstehenden Ansprüche auf Zahlung einer tariflichen Sonderzuwendung (Weihnachtsgeld) befristet reduziert auf 40 %; (…)”.
Die Klägerin erhielt bis einschließlich Juli 2016 ein Bruttogehalt i.H.v. 3.635,00 EUR. Die Beklagte reduzierte dieses Gehalt für die Zeit seit August 2016 auf monatlich 3.477,00 EUR.
Die Klägerin erhob Klage und verlangte eine Vergütung entsprechend der „Tarifgruppe III im siebten Berufsjahr des Gehalts- und Lohntarifvertrages Einzelhandel NRW“.
Das Bundesarbeitsgericht hat der Klägerin im Ergebnis Recht gegeben. Die Klägerin war zwar Mitglied der Gewerkschaft ver.di und deshalb tarifrechtlich an den Tarifvertrag vom 29.07.2016 gebunden. Die Bestimmungen in ihrem Arbeitsvertrag waren jedoch so zu verstehen, dass im Arbeitsvertrag auf den Flächentarifvertrag des Einzelhandels in seiner jeweils geltenden Fassung verwiesen wurde. Diese Flächentarifverträge wurden in Nordrhein-Westfalen nur zwischen dem Handelsverband Nordrhein-Westfalen e.V. und der Gewerkschaft ver.di abgeschlossen. Die arbeitsvertragliche Klausel könne nicht so verstanden werden, dass damit auch die von der Beklagten direkt mit der Gewerkschaft ver.di vereinbarten Tarifverträge als Bestandteil des Arbeitsvertrages gelten sollten.
Für die Klägerin galt also tarifrechtlich der Firmentarifvertrag vom 29.07.2016 und aufgrund des Arbeitsvertrages der Flächentarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen, der höhere Entgelte vorsah. Das Bundesarbeitsgericht nahm einen Günstigkeitsvergleich dieser Regelungen für die Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“ vor und stellte fest, dass die Regelungen des Flächentarifvertrages besser waren als die des Haustarifvertrags vom 29.07.2016.
Die Klägerin hatte deshalb Anspruch auf Zahlung der Vergütungen entsprechend dem Flächentarifvertrag. (BAG vom 11.07.2016, 4 AZR 533/17)
Hinweise von Rechtsanwalt Rolf-Christian Otto: Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts erscheint im Hinblick auf die klare Formulierung des Arbeitsvertrages einschlägig und nachvollziehbar. Sie verdeutlicht jedoch die Probleme, die insbesondere bei der Sanierung von Unternehmen in wirtschaftlicher Notlage auftreten können. In solchen Fällen werden häufig Sanierungstarifverträge mit der zuständigen Gewerkschaft vereinbart, mit denen die Entgelte bzw. die Sonderzahlungen (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld) vorübergehend abgesenkt werden sollen, um eine Sanierung des Unternehmens und die Sicherung der Arbeitsverhältnisse zu ermöglichen. Solche Sanierungstarifverträge werden in vielen Fällen als Haustarifverträge vereinbart. Wenn in den Arbeitsverträgen der Mitarbeiter aber vereinbart ist, dass die Flächen- oder Branchentarifverträge in ihrer jeweils geltenden Fassung zur Anwendung kommen, ohne dass dabei Firmentarifverträge berücksichtigt sind, würde für die betroffenen Mitarbeiter aufgrund ihres Arbeitsvertrages weiterhin der Flächen- bzw. Branchentarifvertrag zur Anwendung kommen. Der Sanierungstarifvertrag wäre zwar wirksam, die Mitarbeiter hätten aber weiterhin ihre ungekürzten Entgeltansprüche.
Bei der Sanierung von Unternehmen in der Krise droht also die Gefahr, dass etwaige vorübergehende Entgeltabsenkungen nur für die Mitarbeiter gelten würden, die mit einer solchen vorübergehenden Absenkung ausdrücklich einverstanden sind.
Gericht:
BAG
Datum der Entscheidung:
11.07.2016
Aktenzeichen:
4 AZR 533/17