BAG ändert Rechtsprechung zur Wahrung zweistufiger Ausschlussfristen bei Erhebung einer Bestandsschutzklage (Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage)

Das BAG sieht – in ausdrücklicher Abkehr seiner bisherigen Rechtsprechung – nunmehr mit der Erhebung einer Bestandsschutzklage (wichtigstes Beispiel in der Praxis: Kündigungsschutzklage des
Arbeitnehmers) die vom Ausgang dieses Rechtstreits abhängigen Vergütungsansprüche, und zwar ohne, dass unmittelbar auf Zahlung geklagt wird, durch die Bestandsschutzklage selbst bereits „gerichtlich geltend gemacht“, so dass der Arbeitnehmer mit seiner Bestandsschutzklage auch ohne ausdrückliche (zusätzliche) Zahlungsklage die zweite Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist wahrt.

Im konkreten Fall hatte ein Arbeitnehmer Klage gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zum 31.01.2008 erhoben. Diesen Bestandsschutzstreit hatte der Arbeitnehmer auch für sich entscheiden können. Bereits ab 01.10.2008 wurde das Arbeitsverhältnis daher wieder wie zuvor durchgeführt.

Für den Zeitraum zwischen Beendigungszeitpunkt und vertragsgemäßer Wiederaufnahme, also im konkreten Fall für den Zeitraum vom 01.02.2008 bis 30.09.2008, bestand zwischen den Parteien Streit darüber, inwieweit dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber noch (Rest-)Lohnansprüche zustehen würden. Insoweit muss man zum Verständnis der Entscheidung wissen, dass ein Arbeitgeber, der trotz Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmer tatsächlich nicht beschäftigt, im Regelfall gleichwohl Arbeitslohn schuldet (sog. Annahmeverzugslohnanspruch des Arbeitnehmers).

In der Praxis versuchten Arbeitgeber nun oft, sich bezüglich dieser Annahmeverzugslohnansprüche auf die in vielen Tarifverträgen enthaltenen zweistufigen Ausschlussfristen zu berufen. Viele Tarifverträge sehen nämlich vor, dass es zur Erhaltung von Ansprüche erforderlich ist, diese binnen kurzer Fristen zunächst schriftlich (erste Stufe), dann gerichtlich (zweite Stufe) geltend zu machen.

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verlangte nun früher für die gerichtliche Geltendmachung einer derartigen tariflichen Ausschlussfrist, dass der Arbeitnehmer nicht nur eine Bestandsschutzklage (z.B. Kündigungsschutzklage) erhob, sondern die Klage fortwährend um solche Vergütungsansprüche erweiterte, die während des Prozesses nach dem Beendigungszeitpunkt aufliefen.

Diese Rechtsprechung wurde vom Bundesarbeitsgericht nun aufgegeben. Das Bundesarbeitsgericht schloss sich insoweit einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2010 an, wonach das Erfordernis zusätzlicher Vergütungsklagen dem Arbeitnehmer die Durchsetzung seiner Rechte in einer Weise erschweren würde, die das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzen würde. Dies nicht zuletzt deshalb, weil durch zusätzliche Vergütungsklagen das Kostenrisiko des Arbeitnehmers steigen würde. (Bundearbeitsgericht, Urteil vom 19.09.2012 – 5 AZR 627/11)

Hinweise von Rechtsanwalt Michael Kügler:
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erleichtert dem Arbeitnehmer die Durchsetzung seiner vom Ausgang der Bestandsschutzklage abhängigen Vergütungsansprüche.

Sie erspart dem Arbeitnehmer eine Ausweitung des Kostenrisikos derartiger Prozesse.

Gleichwohl hat jede Medaille bekanntlich zwei Seiten:

Ein Arbeitnehmer, der darauf verzichtet, die auflaufenden Vergütungsansprüche klageerweiternd geltend zu machen, kann vom Arbeitsgericht für den Fall, dass er mit seiner Bestandsschutzklage, also etwa einer Kündigungsschutzklage, gewinnt, die weiter aufgelaufenen Vergütungsansprüche nicht ausdrücklich zugesprochen bekommen. Er erhält damit kein Urteil, aus dem er etwa die Zwangsvollstreckung betreiben könnte.

Gerät dann der Arbeitgeber vielleicht im späteren Verlauf des Rechtsstreits in Vermögensverfall, kann es für eine dann erst erhobene Vergütungsklage schon zu spät sein.

Aktenzeichen:

5 AZR 627/11