BAG: Betriebliches Eingliederungsmanagement auch in Betrieben ohne Betriebsrat
Der Kläger erkrankte am 25.09.2006 und blieb seither arbeitsunfähig. Mit Schreiben vom 15.10.2007 kündigte die beklagte Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement hatte sie zuvor nicht durchgeführt und verwies darauf, dass bei ihr eine betriebliche Interessenvertretung im Sinne von § 93 SGB IX nicht bestehe.
Das Bundesarbeitsgericht wies dieses zurück. Auch in Betrieben, in denen keine betriebliche Interessenvertretung im Sinne von § 93 SGB IX, also weder ein Betriebsrat noch ein Personalrat, Richter-, Staatsanwalts- oder Präsidialrat gebildet sei, sei bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen.
Dafür sprächen bereits Sinn und Zweck von § 84 Abs. 2 SGB IX. Durch die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten solle ein betriebliches Eingliederungsmanagement geschaffen werden, das durch geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft sichere. Zur Verwirklichung dieses Gesetzeszweckes sei das Bestehen einer betrieblichen Interessenvertretung nicht erforderlich. Die Gesetzesbegründung nenne die betriebliche Interessenvertretung auch nur als eine von mehreren möglichen Beteiligten, mit denen die gemeinsame Klärung möglicher Maßnahmen erfolgen solle, um Beschäftigungshindernisse zu überwinden und den Arbeitsplatz durch Leistungen und Hilfen zu erhalten. Auch der Wortlaut der Bestimmung spreche nicht gegen diese Auslegung. Zwar solle die Klärung „mit der zuständigen Interessenvertretung“ erfolgen. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass eine Klärung nicht zu erfolgen habe, wenn eine betriebliche Interessenvertretung nicht gebildet worden sei. Der Wortlaut lässt sich vielmehr ebenso dahingehend verstehen, dass die Interessenvertretung dann zu beteiligen ist, wenn eine solche besteht. (BAG vom 30.09.2010 – 2 AZR 88/09)
Ergänzende Hinweise: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes hat weitreichende Auswirkungen auf die Verpflichtungen des Arbeitgebers, ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen. So stellt die Entscheidung ausdrücklich klar, dass ein betriebliches Eingliederungsmanagement bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen in allen Betrieben durchzuführen ist, also auch in solchen ohne eine betriebliche Interessenvertretung. Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements besteht danach auch dann, wenn ein Betriebsrat aufgrund gesetzlicher Vorgaben nicht gebildet werden konnte, wie dieses beispielsweise in den Einrichtungen der Kirchen der Fall ist. Auch Kirchen und ihre Einrichtungen sind also verpflichtet, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen.
Das Bundesarbeitsgericht weist auch nochmals auf die prozessualen Folgen des Unterlassens eines betrieblichen Eingliederungsmanagements hin. Bei einer krankheitsbedingten Kündigung sei die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kündigung regelmäßig in drei Stufen vorzunehmen. In der ersten Stufe sei zunächst zu prüfen, ob eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliege. Auf der zweiten Stufe sei zu prüfen, ob aufgrund der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen sei. In der dritten Stufe sei schließlich zu prüfen, ob diese betriebliche Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führten. Bei einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit sei im Regelfall ohne Weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen auszugehen. Die Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit stehe einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit dann gleich, wenn in den nächsten 24 Monaten mit einer anderen Prognose nicht gerechnet werden könne.
Darüber hinaus sei die Kündigung auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Deshalb sei eine Kündigung unwirksam, wenn die Weiterbeschäftigung auf einem anderen, freien Arbeitsplatz in Betracht käme. Der Arbeitgeber käme seiner Darlegungs- und Beweislast außerhalb der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements dabei schon dann nach, wenn er pauschal behaupte, dass für den Mitarbeiter keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten bestünden. Der Mitarbeiter muss dann seinerseits konkret darlegen, wie er sich eine Änderung des bisherigen Arbeitsplatzes oder eine Beschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz vorstellt. Dann hat der Arbeitgeber wiederum die Möglichkeit, auf diesen Vortrag zu erwidern.
Unterlässt der Arbeitgeber jedoch vor Ausspruch der Kündigung die Durchführung eines nach dem Gesetz erforderlichen betrieblichen Eingliederungsmanagements, ändert sich die Darlegungs- und Beweislast. Der Arbeitgeber darf sich dann nicht mehr auf den pauschalen Vortrag beschränken, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den Arbeitnehmer. Vielmehr hat er sämtliche denkbaren oder vom Arbeitnehmer benannten alternativen Einsatzmöglichkeiten zu würdigen und im Einzelnen darzulegen, weshalb eine Weiterbeschäftigung auf dem bisherigen Arbeitsplatz und eine Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz ausscheiden.
Ist der Arbeitgeber der Auffassung, dass ein betriebliches Eingliederungsmanagement eine Kündigung nicht verhindert hätte, muss er seinerseits darlegen und beweisen. dass das betriebliche Eingliederungsmanagement kein positives Ergebnis hätte erbringen können. Auch dazu muss er umfassend und konkret vortragen, weshalb weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisherigen Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und weshalb der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz hätte eingesetzt werden können. (Rechtsanwalt Rolf-Christian Otto, Fachanwalt für Arbeitsrecht)
2 AZR 88/09