BAG: Erwägungen zur verfassungskonformen Auslegung der §§ 129 ff. InsO (Anfechtungsfreiheit des Existenzminimums bei Insolvenzanfechtung?)
Das Bundesarbeitsgericht hatte sich in einer Entscheidung vom 29.01.2014 mit der Frage der Rückzahlung von Arbeitsentgelt an den Insolvenzverwalter zu befassen. Dieser verlangte von der früheren (teilzeitbeschäftigten) Alleinbuchhalterin (Arbeitnehmerin) Lohnzahlungen zurück, die diese in einem Zeitraum von sieben Monaten (Januar bis Juli 2007) in Höhe von netto € 10.023,30 erhalten hatte.
Der Kläger ist der Insolvenzverwalter in einen am 10.08.2007 beantragten und am 13.09.2007 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin. Die Arbeitgeberin war seit Januar 2007 zahlungsunfähig und wusste dies. Die Löhne und Gehälter der ca. 15 Mitarbeiter wurden von der späteren Insolvenzschuldnerin gleichwohl bis zuletzt "jeweils termingerecht" zu Beginn des Folgemonats bezahlt.
Die Lohnzahlungen stellten somit insolvenzrechtlich ein sog. Bargeschäft (§ 142 Insolvenzordnung (InsO)) dar.
§ 142 InsO lautet:
"Eine Leistung des Schuldners, für die unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung in sein Vermögen gelangt, ist nur anfechtbar, wenn die Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 gegeben sind."
Denn nach der Rechtsprechung des BAG (siehe etwa BAG, Urt. v. 06.10.2011, Az. 6 AZR 732/10) sind (kongruente) Lohnzahlungen für den Zeitraum der letzten drei Monate noch unmittelbar im Sinne dieser Vorschrift erfolgt. Kritik an der Länge dieses Zeitraums, der außerhalb des Arbeitsrechts wesentlich kürzer gefasst wird, wird vom BAG ausdrücklich zurückgewiesen (Rn. 50).
Im Übrigen erfolgten die Zahlungen im vorliegenden Falle "jeweils termingerecht", so dass selbst dann, wenn man die Unmittelbarkeit schon bei zeitlichen Abweichungen von wenigen Tagen oder Wochen entfielen ließe, im entschiedenen Falle gleichwohl ein Bargeschäft vorlege.
§ 142 InsO lässt die Anfechtung (kongruenter) Zahlungen daher nur noch unten den Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 zu.
§ 133 Abs. 1 InsO lautet:
"Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte. Diese Kenntnis wird vermutet, wenn der andere Teil wußte, daß die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und daß die Handlung die Gläubiger benachteiligte."
Man spricht in diesem Zusammenhang von der sog. Vorsatzanfechtung. Hierauf stützte der Insolvenzverwalter sein Rückzahlungsverlangen (Insolvenzanfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung).
Die Besonderheit des vorliegenden Falles bestand nun darin, dass die beklagte Arbeitnehmerin aufgrund ihrer Stellung als Alleinbuchhaltern einen guten Einblick in die finanziellen Verhältnisse der Insolvenzschuldnerin hatte.
Es stellte sich nun die Frage, ob wie der Insolvenzverwalter behauptete – verkürzt formuliert – aufgrund dieses Einblicks davon ausgegangen werden durfte, dass die beklagte Arbeitnehmerin von dem in § 133 Abs. 1 InsO erforderlichen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Arbeitgeberin wusste.
Das BAG verneinte diese Frage im Ergebnis.
Denn bei Entgeltzahlungen im Wege des Bargeschäfts kann sich auch bei Kenntnis der eigenen Zahlungsunfähigkeit der Wille des Arbeitgebers darauf beschränken, eine gleichwertige Gegenleistung für die weitere Fortführung des Unternehmens zu erlangen, ohne damit die Gläubiger benachteiligen zu wollen (BAG, Urt. v. 29.01.2014, Az. 6 AZR 345/12).
Hinweise von Rechtsanwalt Michael Kügler:
Die vorliegende Entscheidung des BAG ist bemerkenswert. Dies zeigt sich nicht nur an ihrer Länge (34 Seiten).
Vielmehr beinhaltet die Entscheidung zudem noch umfangreiche Erwägungen des Senats zu der Frage, ob unter welchen Umständen im Rahmen der Insolvenzanfechtungstatbestände im Wege verfassungskonformer Auslegung das in den Lohnzahlungen enthaltene Existenzminimum von der Rückforderung auszunehmen sei (Rn. 15 – 44).
Diese Frage scheint das BAG für Fälle "kongruenter Deckung" (also für Fälle, in denen die Lohnzahlung nicht in abweichender Weise, etwa über Konten Dritter oder mit rechtserheblicher Unpünktlichkeit, erfolgt) bejahen zu wollen. Insofern fehle es nämlich auf Seiten des Arbeitnehmers an geeigneten Absicherungsmöglichkeiten (BAG, aaO., Rn. 38):
"Der Arbeitnehmer hat jedenfalls dann, wenn der spätere Schuldner das Entgelt (weitgehend) pünktlich zahlt, keine adäquaten arbeits- oder sozialversicherungsrechtlichen Handlungsmöglichkeiten, dem Risiko einer Insolvenzanfechtung vorzubeugen. Er kann letztlich nur weiterarbeiten und hoffen, dass es nicht zur Insolvenz kommt (…)".
Und weiter (BAG, aaO., Rn. 40):
"Dem Arbeitnehmer steht bei pünktlichen Entgeltzahlungen weder ein Zurückbehaltungsrecht noch das Recht zur außerordentlichen Kündigung zu. Kündigt er dennoch fristlos, ist dies rechtswidrig, so dass er mit einer Sperrfrist rechnen muss (…). Zudem nimmt er in Kauf, vom Arbeitgeber wegen Vertragsbruchs mit Schadenersatzansprüchen überzogen zu werden und ggf. eine Vertragsstrafe zahlen zu müssen. Er ist deshalb nicht nur vertraglich verpflichtet, sondern auch praktisch gezwungen, seine Arbeitsleistung weiterhin zu erbringen. Er kann damit dem Anfechtungsrisiko letztlich nicht ausweichen (…)."
Im vorliegenden Falle musste das BAG diese Frage nicht entscheiden, da es die Klage schon aus anderen Gründen abweisen konnte.
6 AZR 345/12