BAG: Wirksame außerordentliche Kündigung ein Jahr nach Aufnahme von Ermittlungen
Ein Landesarbeitsgericht hat eine außerordentliche Kündigung, die über ein Jahr nach Bekanntwerden der ersten Vorwürfe ausgesprochen wurde, wegen Nichteinhaltung der Kündigungserklärungsfrist von § 626 Abs. 2 S. 1 BGB für unwirksam gehalten. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Entscheidung aufgehoben und ermöglicht damit Unternehmen, Complianceuntersuchungen ohne Zeitdruck abzuschließen.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Raumfahrt- und Rüstungsindustrie. Zu ihren Kunden gehören auch die Bundeswehr bzw. das Bundesministerium der Verteidigung. Der Kläger war bei der Beklagten als „Vertriebsleiter Defence“ tätig.
Bereits im Juli 2018 erhielt die bei der Beklagten gebildete Complianceabteilung einen Hinweis, dass Mitarbeitern des Unternehmens geheim zu haltende Unterlagen des Verteidigungsministeriums zu einem Beschaffungsvorhaben vorliegen. Im Oktober 2018 wurde eine Rechtsanwaltskanzlei damit beauftragt, den Sachverhalt vollständig aufzuklären. Am 27.06.2019 entschied das dafür gebildete Complianceteam der Beklagten, die aktuellen Untersuchungsergebnisse in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung aufzubereiten. Der entsprechende Zwischenbericht wurde von der Rechtsanwaltskanzlei erstellt und am 16.09.2019 einem der Geschäftsführer übergeben.
Gegen den Kläger als damaligen „Vertriebsleiter Defence“ wurden massive Vorwürfe erhoben. Nach entsprechender Aufforderung der Beklagten gab der Kläger mit Schreiben vom 20.09.2019 eine Stellungnahme zu den Vorwürfen ab. Nach entsprechender Anhörung des Betriebsrates sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom 27.09.2019 eine außerordentliche fristlose Kündigung und hilfsweise eine außerordentliche Kündigung unter Einhaltung einer Auslauffrist im Umfang der ordentlichen Kündigungsfrist aus. Dieses Schreiben ging dem Kläger am 28.09.2019 zu.
Der Kläger hat Klage erhoben und hält die Kündigungen für rechtswidrig. Er meint, die Kündigungen seien mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates und mangels Vorliegen eines wichtigen Grundes unwirksam.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Bundesarbeitsgericht hat die Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes aufgehoben und zur Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Das Landesarbeitsgericht hatte die Kündigungen wegen eines Verstoßes gegen § 626 Abs. 2 S. 1 BGB für rechtswidrig gehalten, weil die Beklagte nicht innerhalb der Zweiwochenfrist von § 626 Abs. 2 S. 1 BGB die Kündigungen ausgesprochen habe. Die entsprechende Regelung hat folgenden Wortlaut:
„(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Der Kündigende muss dem anderen Teil auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen.“
Das Bundesarbeitsgericht sieht die Frist von § 626 Abs. 2 S. 1 BGB hingegen als gewahrt. Diese Frist beginne gemäß § 626 Abs. 2 S. 2 BGB mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlange. Bei juristischen Personen (z.B. GmbH, AG etc.) komme es dabei auf den Zeitpunkt an, zu dem das für die Kündigung zuständige Organ (z.B. Geschäftsführer, Vorstand) von den Tatsachen Kenntnis erlange. Gebe es mehrere Organmitglieder, dann genüge die Kenntnis eines der Organmitglieder.
Neben den Organmitgliedern von juristischen Personen gehören zu den Kündigungsberechtigten in diesem Sinne auch die Beschäftigten, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen habe. Die Kenntnis anderer Personen sei unbeachtlich. Das gelte auch für Vorgesetzte und Mitarbeiter der Complianceabteilung.
Der Geschäftsführer hatte nach den bislang bekannten Ausführungen frühestens am 16.09.2019 Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangt. Da die Kündigung am 28.09.2019 zugegangen ist, wäre die Zweiwochenfrist von § 626 Abs. 1 S. 2 BGB zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstrichen.
Das Bundesarbeitsgericht hat sich darüber hinaus mit der Tatsache beschäftigt, dass andere Personen im Betrieb schon viel früher Kenntnis von den Vorwürfen hatten. Auf deren Kenntnis käme es jedoch nicht an, solange die Beschäftigten, die Kenntnis von den Vorwürfen hatten, nicht zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung berechtigt gewesen seien. Das gelte auch für den Leiter der Complianceabteilung; auch dieser sei nicht zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung berechtigt gewesen.
Aufgrund der bisher bekannten Tatsachen könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Beklagte sich nach Treu und Glauben nicht darauf berufen dürfe, die Zweiwochenfrist von § 626 Abs. 2 S. 1 BGB gewahrt zu haben. Dafür reichten fahrlässige Organisationsmängel, die zu einer späten Kenntnisnahme von Kündigungsgründen durch eine kündigungsberechtigte Person führten, nicht aus. Erforderlich sei vielmehr, dass der Kündigungsberechtigte (Vorstand, Geschäftsführer)
- den Informationsfluss zu sich „zielgerichtet verhindert“ oder zumindest
- „ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen“
habe. Das alleine reiche aber nicht. Es reiche nicht aus, dass irgendeine Person im Betrieb früher Kenntnis von einem Kündigungsgrund hatte. Vielmehr muss die Person, die bereits früher Kenntnis vom Kündigungsgrund hatte,
„eine so herausgehobene Position und Funktion im Betrieb oder in der Verwaltung (innehaben), dass sie tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass der Kündigungsberechtigte allein aufgrund dieses Kenntnisstandes und ohne weitere Nachforschungen seine Kündigungsentscheidung abschließend treffen“
könne. Nur dann, wenn beide Voraussetzungen erfüllt seien, dürfte sich ein Arbeitgeber nicht darauf berufen, dass die außerordentliche Kündigung innerhalb der Zweiwochenfrist ausgesprochen wurde, nachdem die kündigungsberechtigte Person (i.d.R. Mitglied von Vorstand oder Geschäftsführung) von den die Kündigung begründenden Tatsachen Kenntnis erlangt habe.
Der Leiter der Complianceabteilung der Beklagten könnte eine solche Position innegehabt haben. Das Landesarbeitsgericht hatte aber noch nicht festgestellt, ob dem Leiter der Complianceabteilung bereits vor dem 14.09.2019 (zwei Wochen vor Zugang der Kündigung) die dem Kläger vorgeworfenen Pflichtverletzungen vollständig bekannt gewesen seien.
Vom Landesarbeitsgericht sei darüber hinaus zu klären, ob es Umstände gäbe, die es als treuwidrig erscheinen ließen, dass die Geschäftsführung nicht vor dem 16.09.2019 von den angeblichen Pflichtverletzungen des Klägers Kenntnis erlangt hatte. Sofern die Aufbereitung des Sachverhalts und die Erstellung des Zwischenberichtes durch die Rechtsanwaltskanzlei der Beklagten mehr Zeit als erforderlich in Anspruch genommen habe, begründe dies ebenfalls keine Annahme einer treuwidrigen Behinderung des Informationsflusses durch die Beklagte.
Darüber hinaus seien noch weitere Umstände aufzuklären, sodass der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen wurde.
Hinweise von Rechtsanwalt Rolf-Christian Otto:
Das Bundesarbeitsgericht bestätigt mit dieser Entscheidung seine jüngere Rechtsprechung und erleichtert Unternehmen damit den Ausspruch außerordentlicher Kündigungen in erheblicher Weise. Gerade für größere Unternehmen, in denen die Geschäftsführung oder der Vorstand von bevorstehenden Kündigungen möglicherweise erst spät Kenntnis erlangt, wird der Anwendungsbereich von § 626 Abs. 2 S. 1 BGB zulasten der Beschäftigten deutlich eingeschränkt. Gleichzeitig wird klargestellt, dass Complianceabteilungen etwaige Complianceuntersuchungen ohne Eile durchführen und abschließen dürfen, ohne dass der Arbeitgeber befürchten muss, die Kündigungserklärungsfrist von zwei Wochen zu versäumen.
Für die juristische Praxis hat das zur Folge, dass die Chronologie der Geschehnisse auf Arbeitgeberseite gegebenenfalls zu untersuchen sein werden, um festzustellen, zu welchem Zeitpunkt eine kündigungsberechtigte Person oder eine Person, die über eine entsprechend herausgehobene Stellung verfügte, erste Kenntnis von den angeblichen Pflichtverletzungen erlangt hatte. Das wird der oder dem betroffenen Beschäftigten in der Regel schwer fallen, weil die gesamte Ermittlung arbeitgeberintern erfolgen wird. Das Bundesarbeitsgericht hat aber zutreffend darauf hingewiesen, dass dem Arbeitgeber gegebenenfalls
„wegen dessen größerer Sachnähe eine sekundäre Darlegungslast“
zufällt.
Gleichzeitig werden zukünftig viele Complianceuntersuchungen für Arbeitgeber durch externe Rechtsanwaltskanzleien erfolgen. Während der Arbeitgeber bei länger andauernden Untersuchungen durch die interne Complianceabteilung regelmäßig das Risiko eingeht, dass eine etwaige Kündigung möglicherweise gemäß § 6 und 26 Abs. 2 S. 1 BGB unwirksam sein könnte, hat das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung klargestellt, dass eine zögerliche Bearbeitung durch eine externe Rechtsanwaltskanzlei des Arbeitgebers nur bei „Hinzutreten von besonderen Umständen“ die Annahme einer treuwidrigen Behinderung des Informationsflusses durch die Arbeitgeberin begründen könne.
Gericht:
BAG
Aktenzeichen:
2 AZR 483/21
Datum der Entscheidung:
05.05.2022