LAG Hamm: Bestimmungen der AVR verstoßen gegen § 12 EFZG und sind damit unwirksam

Das Landesarbeitsgericht Hamm hatte sich mit der Frage zu befassen, wie Bereitschaftsdienste im Anwendungsbereich der Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des deutschen Caritasverbandes (AVR) zu vergüten sind, wenn diese im Dienstplan vorgesehen sind, aufgrund von Arbeitsunfähigkeit des betroffenen Mitarbeiters jedoch tatsächlich nicht geleistet werden können.

Folgender Sachverhalt liegt der Entscheidung zugrunde:

Der Kläger war seit 1996 bei der beklagten Arbeitgeberin, die ein Krankenhaus betreibt, beschäftigt. Im Arbeitsvertrag der Parteien war die Anwendung der AVR in ihrer jeweils geltenden Fassung vereinbart. Der Kläger war in der Vergangenheit monatlich mindestens zweimal zu Bereitschaftsdiensten eingeteilt worden. Für geleistete Bereitschaftsdienste hatte der Kläger kein Entgelt erhalten, sondern die Inanspruchnahme von Freizeitausgleich gewählt. Im Januar und März 2020 sowie im Mai 2021 war der Kläger ebenfalls zur Ableistung von Bereitschaftsdiensten im Dienstplan vorgesehen. Diese Bereitschaftsdienste leistete der Kläger nicht, da er arbeitsunfähig erkrankt war.

Im Hinblick auf die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verweist Abschnitt XII der Anlage 1 zu den AVR auf die Höhe der Urlaubsvergütung, die dem Mitarbeiter zustehen würde, wenn er Erholungsurlaub gehabt hätte. Zur Höhe der Urlaubsvergütung regelt § 2 der Anlage 14 zu den AVR das Folgende:

  1. Während des Erholungsurlaubs erhält der Mitarbeiter die Dienstbezüge nach Abschnitt II der Anlage 1 zu den AVR einschließlich der Zulagen, die in Monatsbeträgen festgelegt sind, die er erhalten würde, wenn er sich nicht im Urlaub befände. (…) Beim Vorliegen der Voraussetzungen erhält der Mitarbeiter zusätzlich pro Urlaubstag einen Aufschlag nach Absatz 3.
  2. (…)
  3. Der Aufschlag ermittelt sich aus dem Tagesdurchschnit (…) der Vergütung für Bereitschaftsdienste und Rufbereitschaft (…)

Im Arbeitszeitkonto des Klägers wurden die krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste jeweils mit 0 Stunden bewertet. Stattdessen zahlte die Beklagte an den Kläger dessen Dienstbezüge sowie einen Aufschlag nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 zu den AVR. Diesen Aufschlag berechnete die Beklagte, indem sie die Summe der ausgezahlten Aufschläge und Zeitzuschläge sowie die Vergütung für Rufbereitschafts- und Bereitschaftsdienste der jeweils letzten drei Monate vor dem krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienst zugrunde legte. Die Teile des Bereitschaftsdienstes, die in Freizeit ausgeglichen wurden, haben bei der Ausgleichszahlung finanziell keine Berücksichtigung gefunden.

Der Kläger vertritt die Auffassung, die ausgefallenen Bereitschaftsdienste müssten als Arbeitszeit zu werten sein und entsprechend seinem Stundenkonto gutgeschrieben werden. Denn soweit es sich bei den ausgefallenen Bereitschaftsdiensten um gewertete Arbeitszeit handelt, könne er nach den zwingenden Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes eine Vergütung fordern. Dieses sehe nach dem Lohnausfallprinzip vor, dass dem Kläger, sofern er die in Rede stehenden Bereitschaftsdienste geleistet hätte, diese Zeiten in entsprechender Stundenzahl seinem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben worden wären und er im Krankheitsfall nicht schlechter gestellt werden dürfe. Der Zuschlag, den die Beklagte gezahlt hatte, stelle für die unterbliebene Zeitgutschrift keine ausreichende Kompensation dar.

Die Beklagte meint hingegen, zur Gewährung der Stundengutschriften nicht verpflichtet zu sein, da sie die Ansprüche des Klägers auf Gewährung von Krankenbezügen nach Abschnitt XII der Anlage 1 zu den AVR i.V.m. § 2 der Anlage 14 zu den AVR ordnungsgemäß erfüllt habe.

Das Arbeitsgericht hat sich der Argumentation der beklagten Arbeitgeberin angeschlossen und die Klage als unbegründet abgewiesen. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung des Klägers vor dem LAG Hamm hatte Erfolg.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger ein Anspruch auf die begehrte Stundengutschrift zu. Denn zugunsten des Klägers greift der Entgeltfortzahlungstatbestand des § 4 Abs. 1 EZFG. Dieser war aufgrund der bestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage, die dienstplanmäßig vorgesehenen Bereitschaftsdienste abzuleisten. Gemäß § 4 Abs. 1 EFZG ist dem Arbeitnehmer für den in § 3 Abs. 1 EFZG bezeichneten Zeitraum das Arbeitsentgelt fortzuzahlen, das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zusteht. Bei den durch den Kläger zu leistenden Bereitschaftsdiensten handelt es sich um eben solche regelmäßige Arbeitszeit des Klägers, da der Kläger monatlich zu mindestens zwei Bereitschaftsdiensten und damit regelmäßig und stetig eingeplant wurde. Somit sind auch die ausgefallenen Bereitschaftsdienste von der Entgeltfortzahlungspflicht der Beklagten gemäß § 4 Abs. 1 EFZG umfasst. Die Beklagte könne sich dabei auch nicht auf die Vorschriften der AVR berufen. Denn die Bestimmungen der AVR sind unwirksam, da sie in unzulässiger Weise die Ansprüche des Klägers nach § 4 EFZG verkürzen und insoweit gegen § 12 EFZG verstoßen. Dies ist damit zu begründen, dass die Bestimmungen der AVR zur Entgeltfortzahlung jedenfalls im Hinblick auf Bereitschaftsdienste nicht dem Lohnausfallprinzip des EFZG folgen, sondern auf die durchschnittliche Vergütung in einem Referenzzeitraum abstellen. Dadurch werden Arbeitnehmer im Hinblick auf die Höhe der Entgeltfortzahlung schlechter gestellt, die wie der Kläger, im Referenzzeitraum keine Vergütung, sondern einen Freizeitausgleich für geleistete Bereitschaftsdienste erhalten.

Darüber hinweg helfe auch nicht die Vorschrift des § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG, nach der durch Tarifvertrag eine abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts festgelegt werden kann. Denn bei den AVR handelt es sich nicht um einen Tarifvertrag, sondern diese sind als Allgemeine Geschäftsbedingungen anzusehen.

 

Hinweise von Rechtsanwalt Adrian Kalb:

Gegen das Urteil des LAG Hamm hat die Beklagte Revision eingelegt. Diese hatte das erkennende Gericht ausdrücklich zugelassen, da der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, inwiefern durch die Bestimmungen der AVR von Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes abgewichen werden kann, grundsätzliche Bedeutung zukomme.  

Gericht: 

LAG Hamm

Aktenzeichen: 

18 Sa 1158/21

Datum der Entscheidung: 

02.06.2022