LAG Hessen: Benachteiligung eines Betriebsratsmitgliedes – Versagung der Freistellung von Betriebsratsmitgliedern aufgrund hypothetischer Mehrarbeit 

Betriebsratsmitglieder dürfen Arbeitszeitguthaben aufgrund „hypothetischer Mehrarbeit“ in gleicher Weise zur Freistellung vor der Passivphase der Altersteilzeit verwenden wie andere Beschäftigte. 

Im Betrieb der Beklagten wurde regelmäßig Mehrarbeit geleistet. Aufgrund der Beschäftigungssituation hatten die Beklagte und der im Betrieb gebildete Betriebsrat vereinbart, dass Mehrarbeit nicht ausgezahlt, sondern ausschließlich dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben wurde. Das führte zu Freistellungsansprüchen, die von lebensälteren Beschäftigten auch dazu verwendet wurden, um vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses oder der Passivphase der Altersteilzeit bereits für einen längeren Zeitraum freigestellt zu werden.  

Der Kläger war Mitglied des Betriebsrats und als solches gem. § 38 BetrVG freigestellt. Die Beklagte hatte dem Kläger für „hypothetische Mehrarbeit“ die dieser geleistet hätte, wenn er nicht als Mitglied des Betriebsrats freigestellt worden wäre, Zeitgutschriften erteilt. Diese wollte der Kläger nutzen, um bereits vor der Passivphase seiner Altersteilzeit für einige Monate freigestellt zu werden und so vorzeitig in den Ruhestand gehen zu können.  

Die Beklagte hielt das inzwischen für rechtswidrig. Sie meinte, die Zeitgutschriften hätten nicht erteilt werden dürfen. Er habe diese Mehrarbeit nicht geleistet und wenn er nun dafür eine Freistellung erhielte, stelle das eine Bevorzugung wegen seiner Betriebsratstätigkeit dar. Der Kläger solle also bis zum Eintritt in die Passivphase seiner Arbeitstätigkeit nachkommen. Daraufhin beantragte der Kläger den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Das Arbeitsgericht Kassel hatte dem Antrag entsprochen. Die dagegen eingelegte Berufung wurde vom Hessischen Landesarbeitsgericht zurückgewiesen.  

Dabei verwies das LAG Hessen auf die langjährige Rechtsprechung des BAG. Nach der Bestimmung von § 37 Abs. 2 BetrVG seien Betriebsratsmitglieder von ihrer Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien, soweit das zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich sei. Der Arbeitgeber habe damit das Arbeitsentgelt zu zahlen, das vom Betriebsratsmitglied zu beanspruchen wäre, wenn es keine Betriebsratstätigkeit geleistet, sondern gearbeitet hätte. Deshalb habe das Betriebsratsmitglied auch eine Vergütung für Überstunden oder Mehrarbeit zu beanspruchen, die vom Betriebsratsmitglied zwar nicht geleistet wurden, aber geleistet worden wären, wenn es nicht Betriebsratstätigkeit geleistet hätte. Deshalb hätten Betriebsratsmitglied Anspruch auf Vergütung von hypothetischer Mehrarbeit, wenn sie diese geleistet hätten, sofern sie nicht Mitglied des Betriebsrats wären.  

Dabei mache es auch keinen Unterschied, ob der Ausgleich der Mehrarbeit durch Vergütung oder durch Freistellung erfolge. Die Erfassung von Zeitguthaben für hypothetische Mehrarbeit folge aus dem in § 37 Abs. 2 BetrVG geregelten Lohnausfallprinzip. Darüber hinaus stelle die Gewährung der Freistellung auch keine Bevorzugung gegenüber anderen Beschäftigten dar, da diese ihre Zeitguthaben ebenfalls für solche Freistellungen verwenden könnten.  

LAG Hessen v. 22.04.2022 – 3 SaGa 525/22 (nicht veröffentlicht)  

 

 

Hinweise von Rechtsanwalt Rolf-Christian Otto:

Die Entscheidung ist nicht überraschend und bestätigt die Rechtsprechung des BAG. Niemand soll einen Nachteil erleiden, wenn sie oder er das Amt eines Betriebsratsmitgliedes übernimmt. Wenn andere Beschäftigte Mehrarbeit leisten können, die dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben wird und sie dieses Zeitguthaben später für eine Freistellung verwenden können, dann muss das nach der klaren Regelung von § 37 Abs. 2 und § 78 S. 2 BetrVG in gleicher Weise für Betriebsratsmitglieder gelten. Das gilt auch für die hypothetische Mehrarbeit, die das Betriebsratsmitglied geleistet hätte, wenn es nicht Mitglied des Betriebsrats geworden wäre.  

 

 Gericht: 

LAG Hessen

Aktenzeichen: 

3 SaGa 525/22

Datum der Entscheidung: 

22.04.2022